Brief im Wortlaut

"Sehr geehrter Herr Vorsitzender,

nach mehrmonatiger Bedenkzeit erkläre ich heute, am 22. September, meinen Austritt aus der FDP. Diese Entscheidung habe ich bewusst vor dem Wahlausgang und ihren Ergebnissen, sowie unabhängig von der politischen Zukunft Ihres Stellvertreters (Jürgen Möllemann) getroffen.

Meine Entscheidung, die mir sehr schwer gefallen ist, basiert auf der Einsicht, dass ich meine persönlichen und politischen Grundwerte in der heutigen FDP nicht mehr ausreichend vertreten kann und gewährleistet sehe. Aus dieser Entwicklung und insbesondere durch die andauernde rechtspopulistische, antiisraelische und tendenziell Antisemitismus schürende Agitation des stellv. Parteivorsitzenden ist eine wechselseitige Entfremdung zwischen der Partei und mir entstanden, die für mich unerträglich und irreparabel geworden ist, weil sie die Fundamente meiner Überzeugungen für mein politisches Engagement in Frage stellt.

Nach dem Erleben und den Erfahrungen der Nazidiktatur wollte ich seit 1945 alles in meinen Kräften stehende dazu beitragen, dass in Deutschland nie wieder Rassen- und Fremdenhass direkt oder indirekt geschürt oder gar geduldet werden darf. (...) Aus diesen Gründen konnte und kann ich diesbezügliche taktische Kursschwankungen und Formelkompromisse, wie sie in der FDP gang und gebe geworden sind, nicht länger mittragen.

Meine diesbezüglichen Besorgnisse habe ich Ihnen, Herr Vorsitzender, wiederholt mitgeteilt ... Ihre Reaktionen auf meine und andere warnende Stimmen, vor allem aber Ihr zögerliches Verhalten hinsichtlich der Eskapaden Ihres Vertreters, haben mich in meiner Kritik bestärkt, dass Sie Ihre Führungsverantwortung nicht rechtzeitig und nicht ausreichend wahrgenommen haben. Sie haben zu lange geschwiegen und dem Möllemann-Kurs nicht rechtzeitig Paroli geboten. Für "last-minute"-Absetzbewegungen ist es nun zu spät. Langwierige Personalquerelen und Turbulenzen sind absehbar.

Mein Resümee: Nach 54-jähriger Parteizugehörigkeit (darunter viele Jahre in führenden Parteiämtern) vermag ich in einer zur rechten Volkspartei à la Möllemann gestylten FDP keine Spuren eines Theodor Heuss, eines Thomas Dehlers und Karl-Herrmann Flach, eines Ignaz Bubis und vieler anderer aufrechter Liberaler mehr zu entdecken. Damit habe ich meine politische Heimat verloren und muss von heute an, traurigen Herzens, zur Wechselwählerin werden.

"gez. Hildegard Hamm-Brücher"

Quelle: dpa

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